Fußnoten von T.P.

Abschiedspredigt vom 26. September 2021

Ihr Lieben alle!

Ach ich bin viel zu wenig, zu rühmen seinen Ruhm. Der Herr allein ist König, ich eine welke Blum…“

Als ich 2003 hier ankam, dachten manche: Was is’n das für’n Kleiner mit Igelschnitt? Einer meiner ersten Hausbesuche lief folgendermaßen ab: Nach dem Klingeln ging die Tür auf, ein kurzer Blick, und dann der herrlich einladende Satz: Wir kaufen nix. Und schon war die Tür wieder zu. Mit dem zweiten Versuch kam ich dann rein.

Ich hab sehr gern Besuche gemacht all die Jahre. Ich kenne eure Stuben, eure Küchen und eure Speisekammern. Aber vor allem habt ihr mir eure Leben geöffnet. Ihr habt mir von euren Geheimnissen abgegeben, von eurer Furcht und von eurem Glück. Ich hab all das gehütet. Aber aus mir heraus hätte ich es niemals gekonnt. „Der Herr allein ist König, ich eine welke Blum.“

Oh ja, inzwischen bin ich eine welke Blum. Und glaubt mir: Es ist schön! Ich war gern jung. Ich bin gern alt. Wer’s mir nicht glaubt, der lässt es halt.

Als Hütejunge dieser Gemeinden höre ich jetzt auf. Aber im Herzen nehme ich mit, was mir lieb geworden ist: Euch und eure Nachsicht mit meinen kauzigen Schwächen. Die erfüllten Jahre hier in euren Familien und Häusern. Ihr habt mir das Wertvollste geschenkt: Euer Vertrauen. Ich danke euch von ganzem Herzen dafür.

Meine Aufgabe war es, vom Gott des Lebens zu erzählen. Dafür hat er mir die Gabe der Sprache gegeben. Wo euch manchmal die Worte fehlten, hab ich sie aufgespürt. Es ist mir keineswegs immer gelungen. Aber manchmal konnte ich ein bisschen Dolmetscher für euch sein. Das war beglückend für mich.

Als Theologe hast du von Gott zu reden. Aber wenn du ihn nicht lieb hast, solltest du es lassen. Als Theologe hast du vom Menschen zu reden. Aber wenn du ihn nicht lieb hast, solltest du es lassen. Als Theologe hast du von der Schöpfung zu reden. Aber wenn du sie nicht lieb hast, solltest du es lassen.

An Gott hab ich lieb seine Verborgenheit. Ich mag, dass er mitten im Geheimnis wohnt. Ich mag, dass er sich grandios verrätselt. Die Verborgenheit Gottes ist der Spiegel seiner Anwesenheit.

Am Menschen hab ich lieb seine Begeisterung, seine Tapferkeit und das große Herz für andere, egal woher sie kommen.

An der Schöpfung hab ich lieb ihre Schönheit. Was bin ich gern durch unser herrliches Grabfeld gelaufen oder mit dem Fahrrad gefahren. Die immer gleichen Wege waren immer anders. Denn Gott ist ein König der Farben. Seine Welt ist herrlich bunt: Die Menschen in ihren verschiedenen Häuten. Sie gehören alle grenzenlos zueinander, weil sie seine Kinder sind. Die Farben in den Kleidern der Frauen und auf den Flügeln der Schmetterlinge. Und mittendrin: Alle Farben des Himmels in den Augen der Kinder.

Glauben ist Staunen in Farben.

Gott ist aber auch ein König der Töne: Das Fauchen der Winde, das Flüstern der Bäche, das Galoppieren der Pferde, die zittrige Stimme der alten Dame im Gottesdienst wie eine späte Nachtigall. Und natürlich Bach, Mendelssohn, Brahms: Was habe ich die Konzerte in dieser Kirche genossen! Gott ist ein König der Töne. Er hat seine Welt vielstimmig gemacht.

Gott ist aber auch ein König des Trostes. Ich traf ihn zum ersten Mal, als ich noch sehr klein war. Kindskopfklein. Ich hatte meine Mutter verloren an einen sehr frühen Tod. So stand ich denn als Winzling vor dem Kruzifix einer Kirche. Es war Abend und es war Schatten und es war maßlos still. Christus hing entsetzlich schief an seinem Kreuz. Aber genau das hat mich zu ihm hingezogen. Er war von meiner Art. Ich war ja genauso schief und bin’s bis heute geblieben. Ich dachte immer, ich wäre zu klein für Christus. Aber er war noch kleiner. Ich dachte, ich wäre zu arm für Christus. Aber er war noch ärmer. Ich dachte, ich wäre zu verloren für Christus. Aber er war noch verlorener. Anders kann er ja auch nicht trösten.

Ihr Lieben!

Gott ist auch ein König der Hoffnung. Davon hab ich am liebsten gepredigt. Ein Christ ist keineswegs ein guter oder gar ein besserer Mensch. Ein Christ ist ein österlicher Mensch. Er traut Gott das Leben zu – mitten im Tod. Das ist ein verwegener Glaube, ein Seiltanzglaube. Höhenangst darfst du da nicht haben. Glaub mir, es ist leichter, dem Tod das letzte Wort zu geben. Wir mögen es ja, wenn nichts offen bleibt. Ich liebe die Sätze mit Doppelpunkt am Ende. Da kommt nämlich noch was. Der Doppelpunkt des Glaubens macht österlich. Denn Gott ist ein König der Hoffnung. Für uns. Für dich.

Denn du, in Sonne, Regen und Wind,

bist ein geliebtes Gotteskind,

ein Wanderer durch Raum und Zeit.

Glaub mir: Dein Gott ist gar nicht weit.

Er steht dir bei in Not und Glück

und bringt dich am Ende nach Hause zurück.

Weil Glaube, egal, wo du grad bist,

im Grunde nichts andres als Heimweh ist.

Und nun, in Gottes heiligem Namen,

sag’ ich am Ende kräftig: Amen.

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Schließ die Tür zu!

Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein, schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist!“ Matthäus 6, 6

Hast du ein Kämmerlein zum Beten? Einen Ort nur für dich, für Gott und das Flüstern der Zeit? Hast du ein Kämmerlein zum Beten? Ist es dein Bett am Abend, wenn du Gott den vergangenen Tag zeigst wie einen Film? Und warum muss diese Kammer eigentlich verschließbar sein? Gehört das Beten denn zum Dämmerreich der Heimlichkeiten? Wofür sonst gehe ich ins Kämmerlein und schließe die Tür zu? Für die Tränen, die keiner sehen soll, die Jämmerlichkeit, die nur mir gehört, die zweifelhaften unter meinen Gedanken? Wofür brauche ich eine Kammer, die sich verschließen lässt? Und wem schließe ich sie auf? Wen lasse ich ein? Vielleicht verbirgt sich das Geheimnis des Gebetes genau in diesen Fragen? „Bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist!“

Das ist eine kühne Verheißung. Im geschützten Kammergebet ist heilige Begegnung. Dort kannst du dich als Verborgener offenbaren. Du, in deiner Selbstverriegelung. Du, mit deinen innen umgedrehten Schlüsseln. Gebet hat mit Hingabe zu tun, und dafür braucht es das Recht auf Verborgenheit. Du entscheidest, wen du mitnimmst in deine Kammer und vor wem du deine Seele entblößt. Der Schlüssel innen schützt vor der Scham außen.

Deshalb: „Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein, schließ die Tür zu!“

Und nun kommt das Wunder, von dem Beter immer wieder berichten: Im verschlossenen Kämmerlein deines Lebens wird Gott zum Verstehenden. Nicht zum Demütiger, der deine Zerknirschtheit braucht. Nicht zum Richter, der deine Schuld braucht. Nicht zum Ertapper, der deine Scham braucht. Gott wird zum Verstehenden. Und schau, es ist gut. Schau, es tröstet. Schau, es verwundet dich nicht. Das ist der Seiltanz des Gebetes: Der Verborgene ist der Verstehende. Zu IHM kannst du sagen: Schau mich an Vater, der im Verborgenen ist! Siehst du meine Blöße? Ich bin nur noch Haut. Ich bin nur noch Seele. Ich bin nur noch ich. Und genau so komm ich zu dir.

Hast du ein Kämmerlein zum Beten? Dann geh hinein, schließ die Tür zu und erzähle dich deinem Vater! Im Verschließbaren deines Lebens wird ER zum Verstehenden.

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Nachgefragt:

Fasten Teil 1

Interview mit unserem Gemeindepfarrer Thomas Perlick und Janek Wyrwich

https://www.youtube.com/watch?v=rA2VJYkyhi0

Fasten Teil 2

Interview mit unserem Gemeindepfarrer Thomas Perlick und Janek Wyrwich

https://www.youtube.com/watch?v=KGJvAp1dc3Q

Fasten Teil 3

Interview mit unserem Gemeindepfarrer Thomas Perlick und Janek Wyrwich

https://www.youtube.com/watch?v=zhSN07Kwbyg

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Predigt zum Jahreswechsel 2020/21

Sie sagen zu den Sehern: Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen. Redet zu uns, was angenehm ist. Lasst uns doch in Ruhe mit eurem Gott. Darum spricht ER, der Heilige: Weil ihr dies Wort verwerft, soll eure Sünde sein wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln in einer hohen Mauer, die plötzlich unversehens einstürzt.“ (Jes 30, 10-13)

Hätte uns Ende 2019 jemand gesagt, dass es bald rieseln würde, wir hätten’s nicht geglaubt. Hätte einer behauptet, dass bald die Mauern unseres gewohnten Lebens einstürzen würden, wir hätten’s nicht geglaubt. Hätte man uns von Masken erzählt, die bald unsere Gesichter bedecken – wir hätten’s nicht geglaubt. Hätte einer behauptet, dass wir wochenlang nicht mehr verreisen, in keinem Hotel übernachten, in keinem Gasthof essen könnten, dass wir nicht mehr ins Theater, ins Kino, in Konzerte gehen können – wir hätten’s nicht geglaubt. Hätte einer davon gesprochen, dass wir Weihnachten nicht in Großfamilie und Silvester nicht im Lärm feiern können– wir hätten’s nicht geglaubt. Und hätte dieser Jesaja des 21. Jahrhunderts dann auch noch von einer Plage gesprochen, die jeden jederzeit und an jedem Ort überfallen kann, ihn mit Fieber überziehen, ihm den Atem nehmen und im schlimmsten Falle seine Lunge zum Bersten bringen – dann hätten wir diesem Seher den Mund verboten und ihn davon gejagt.

Aber genau dies alles hatten wir im alten Jahr ebenso wie die lauten Menschen mit ihrem verqueren Denken. Und es gibt sie ja immer noch! Wenn man ihnen zuhört, könnte man meinen, der alte Jesaja hätte seinen Text für unsere Zeit geschrieben. „Sie sagen zu den Sehern: Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen. Redet zu uns, was angenehm ist.“

Solcherlei hämmert man noch immer auf die Tastaturen allesfressender, allesausspuckender Smartphones. Dabei glühen, röcheln und sterben doch Tausende. Aber man will es weder hören noch wissen. Für die einen gibt es diese Seuche gar nicht. Für andere hat sie allenfalls die luftige Leichtigkeit einer Grippe. Wer anders darüber berichtet, ist ein von dunklen Mächten ferngesteuerter Lügner. Man schaltet ihn ab. Das ist die Taktik der Fünfjährigen: Bei Gefahr: Decke über den Kopf! Wenn dir die Wirklichkeit nicht passt, dann denk dir doch einfach eine andere aus! Vorlagen dazu findest du im internationalen Netz. Such dir einfach aus, was dich bestätigt und überspring alles andere. Fertig ist die schöne neue Welt.

Und so sagt man all den missliebigen Politikern, verlogenen Medien und finsteren Verschwörern den Kampf an. Irgendjemand muss doch Schuld sein. Irgendeiner muss das doch angezettelt haben. Auf keinen Fall darf etwas einfach nur tragisch und schicksalhaft über uns kommen. Das passt nicht zum modernen Lebensgefühl der Allesbeherrschbarkeit. Also muss doch irgendjemand dahinterstehen, und seien es bizarre Bösewichter, denen man Namen, Gesichter und einen Hass geben kann. Plötzlich haben wir wieder ein bisschen Mittelalter. Der Teufel marschiert durch die Hintertür ins gelobte Land der Moderne. Er ist Mensch geworden in Bill Gates, Karl Lauterbach und Angela Merkel. Man trägt ihre Bilder vor sich her durch die Straßen oder verlinkt sie mit all den wehrlosen Textdateien. Irgendwo muss die Wut ja hin, die eigentlich eine Angst ist vor dem Ungreifbaren. Wer verliert schon gern die Kontrolle, um plötzlich seine erbärmliche Ohnmacht zu spüren? Wer erkennt schon gern, dass er nur Mensch ist? Dass all die Selbstvergottung nicht funktionieren kann? Also nieder mit den staatlich verordneten Knebelungen: Denn es gibt ja ein Grundrecht auf Freiheit – eines auf Achtsamkeit gibt es nicht. Die Nächstenliebe landet im Pfandleihhaus. Es gibt ausreichend Bares dafür in den Goldmünzen der Egozentrik. Nun kann man sich freikaufen vom mühsamen Mit – Fühlen und Mit – Leiden.

Aber es wird niemals eine Freiheit geben ohne die anderen, ohne die Kindlichen, die Schwachen und die Alten, ohne die Verlorenen und Verirrten, ohne die Entlaufenen und Gestrandeten. Das Grundrecht auf Freiheit ist dem Grundrecht auf Leben nachgeordnet. Nach! Und dem Grundrecht auf Leben ist die Grundpflicht zur Nächstenliebe beigeordnet. Das eine ohne das Andere zerstört jede menschliche Gemeinschaft. Und genau davor warnen alle Bibelpropheten in alle Zeiten hinein:

Weil ihr dies Wort verwerft, soll eure Sünde sein wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln in einer hohen Mauer, die plötzlich unversehens einstürzt.“

Es rieselt, Leute, schaut doch hin! Es rieselt aus den hohen Mauern. Hört ihr’s denn nicht? Es ist dieser hauchzarte Klang wie von Perlen, die ineinander berühren, wie von feinkörnigem Schnee, der sich harmlos gibt und dem doch die große Lawine folgt, wie der flüsternde Sandregen an der Steilküste, kurz bevor die hoch aufragende Wand alles unter sich begräbt. Es rieselt, Leute! Wir haben es nicht hören wollen am Ende des letzten Jahres. Es war ja auch noch so wunderbar chinesisch fern. Und Katastrophen sind immer etwas für die Ferne.

Ebola damals – na gut, Afrika. Das war nun wirklich weit genug weg So wie der Hunger. So wie der Durst.

Wenn da nur nicht dieses Rieseln wäre!

Das Schmelzen der Pole, das Sterben der Eisbären, die brennenden Riesenwälder in Amerika, der Klimasturz ins Überhitzte – auch das noch weit genug weg.

Wenn da nur nicht dieses Rieseln wäre!

Das Flüchtlingslager bei Bihac’, 1300 Menschen (Menschen!), kein Strom, kein Wasser, das bibbernde Frieren in den dünnen Zelten und das Versinken der Füße im Schlamm – auch das alles fern genug? Offenbar schon.

Wenn da nur nicht dieses Rieseln wäre!

Und – es ist eigentlich nicht zu glauben – aber der Judenhass ist auch wieder da. Die jüdische Weltverschwörung hat sich diesmal eine Seuche einfallen lassen. Der ewige Jude, das immer geschwärzte Schaf. Aber auch Halle ist weit genug weg, so wie Auschwitz, Treblinka und der Rauch.

Wenn da nur nicht dieses Rieseln wäre!

Ihr Lieben!

Ich weiß: Diese Predigt ist eine Zumutung. Sie hat mir beim Aufschreiben ebenso weh getan, wie euch jetzt beim Zuhören. Aber prophetische Rede muss schonungslos sein. Keiner ist gern ein Jesaja oder ein Jeremia. Ich auch nicht. Wer würde nicht lieber reden, was angenehm ist? Aber manchmal muss das heilige Wort aufrütteln und verstören, damit wir es wieder hören, dieses Rieseln in den Mauern. Das ist das erste. Damit muss es beginnen. Als zweites sollten wir genau hinschauen, aus welchen Ritzen es kommt. Und als Drittes müssen wir handeln. Jeder an seinem Platz – und doch miteinander in der einfühlsamen Kommunität der Gotteskinder.

Ihr Lieben!

Das war es noch nicht. Das darf es noch nicht gewesen sein! Niemals lässt uns ein Prophet verstört zurück. Schon gar nicht Jesaja, dieser artistische Hoffnungsjongleur, von dem ich mich so gern in die göttliche Manege locken lasse. Er kann nämlich auch ganz anders. Wollt ihr’s hören für das neue Jahr? Ich liebe dieses Wort. Es lässt meine Seele Tanzen. Es ist der schwer errungene Jubel eines Gottbegeisterten: Jesaja 61: „Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn.“

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Andacht zum Weihnachtsfest ab 24.12., 14.00 Uhr

https://www.youtube.com/watch?v=6EaXJidJZD4&feature=youtu.be

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Verborgen

Als Kind war ich ein großer Verberger. Verstecken war kein Spiel. Verstecken war Überleben. Seitdem weiß ich, dass der Mensch einen Anspruch hat auf das Verbergen. Verborgenheit ist das Grundrecht, ein Geheimnis zu haben, ein Geheimnis zu leben, ein Geheimnis zu sein. Die Würde des Menschen ist seine Unantastbarkeit, die Verborgenheit sein Schutz. Er darf sich verkriechen und verflüchtigen. Er darf Labyrinthe bauen, die andere an ihm vorbei irren lassen. Sie müssen es aushalten. Es ist die Bergung des Menschen vor dem Menschen. Du sollst keinem nachgehen, der sich verbirgt. Zieh nicht das Tuch vom Gesicht des anderen und nicht das Kleid von seiner Haut. Manchmal kann er nur im Verbergen überleben, so wie du und ich. Es geht um die höchste Verletzlichkeit, um das ‘Ich’, diesen König und Bettler. Jedes ‘Ich’ hat einen Namen und jeder Name ein Gesicht und jedes Gesicht eine zitternde Erscheinung. Es muss unentwegt öffentlich werden, sichtbar, auffindbar. Deshalb braucht es seine verborgenen Orte. Denn draußen ist immer Jahrmarkt, immer Schaustellerei, immer Bühne. Draußen ist immer einer, der dich dir nicht glaubt.

Als Kafka Kind war in Prag, führte sein Schulweg durch den Altstädter Ring. Er musste über den großen Platz. Es gab dort keine Möglichkeit, sich zu verbergen, sich unsichtbar zu machen. Aber der kleine Kafka hatte schon die Scheu des großen: Die Angst vor Entbergungen, die Furcht vor der Wunde der Auffindbarkeit. Kafka liebte das Evangelium des Verborgenen.

Ich auch.

Und Gott?

Was ist mit ihm, dem großen Selbstverhüller? Verborgen bis ins vage Vermuten hinein. So tief im Geheimnis verschwunden, dass er zur Leugnung seiner selbst einlädt. Riskanter kann man sich nicht verbergen als im Zweifel der Menschen. Was ist mit einem, der von sich sagt: „Ich werde sein, der ich sein werde.“

Verrätselter geht es kaum.

Mir aber ist immer lieb gewesen, dass Gott sich unauffindbar macht. Ich mag, dass er das Verborgene lebt, um es zu schützen.

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Zum 3. Oktober 2020

Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Ps 31,9)

Als Kind spielte ich am liebsten auf einer schmalen Wiese hinter dem Haus. Sie war begrenzt durch dreimal Zaun und einmal Mauer. Viel Platz war da nicht. Aber ich fand Käfer dort, Rindenstücke und schöne Steine. Für alle fand ich einen Namen und eine Geschichte. So wurde aus der kleinen Welt draußen eine große in meinem Kopf.

In den Geschichten meiner Kinderbibel war das genauso. Jona hockt im Bauch des Fisches und singt genau dort sein Gebetslied. Daniel „lobt und dankt Gott“ ausgerechnet in der Löwengrube. Paulus fühlt sich im Kerker freier mit seinem Gott als draußen ohne ihn. So ist das also, dachte ich: Wenn draußen kein weiter Raum ist, schenkt Gott ihn innen.

Als Jugendlicher lebte ich in Ummerstadt. Das war wie ein Sack aus Grenze. Nur Richtung Heldburg gab es eine kleine Öffnung. In Mendhausen war das ganz ähnlich. Aber weder die Ummerstädter noch die Mendhäuser sind in ihren Herzen eng geworden. Wenn draußen kein weiter Raum ist, schenkt Gott ihn innen.

Als ich dann studierte, faszinierte mich besonders Dietrich Bonhoeffer. Eingesperrt in einem Nazi-Gefängnis schrieb er Texte von unerhörter Tiefe und Frömmigkeit. Außen Gitterstäbe aus Stahl, innen weiter Raum aus Gottvertrauen. Das hat mein Leben geprägt: Immer, wenn es eng wurde, hat mich der weite Raum meines Glaubens getragen.

Ihr Lieben!

Es war aufregend und befreiend, als 1989 die Grenze fiel. Weiter Raum bis München und Hamburg. Weiter Raum bis Paris und Rio. Aber ich habe nie das weite Land in mir vergessen: Das Vertrauen meiner Seele auf den Gott des Lebens. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum, Herr“ – auch wenn es eng wird.

Das gilt für die Jahre vor der Grenze und die Zeiten danach, die mir allerdings viel fröhlicher und lieber sind.

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Gott war früher

Ich habe einen Frage – Freund. Er forscht gern ein bisschen in mich hinein. Wir mögen uns, obwohl er die Welt gern erklärt, während ich sie lieber staune. Kürzlich fragte er mich: „Du, Thomas, wieso glaubst du eigentlich? Du bist doch sonst ein ganz vernünftiger Junge. Gott war früher, als die Leute so was noch brauchten.“

Gott war früher.“ Mir gefallen solche steilen Sätze. Aber ich sehe es trotzdem anders. Außerdem bin ich gern mal ein unvernünftiger Junge. Ich denke um die Ecke. Ich streune durch die sieben Himmel meiner Sehnsucht. Ich liebe Verwunderungen. Ich mag Wissenschaft durchaus, aber ich misstraue Beweisen. Ich interessiere mich für Forschung, aber ich fürchte eine ausgeforschte Welt. Ich habe eine Leidenschaft für unlösbare Rätsel und gehütete Geheimnisse. Zu all dem gibt mir der Glaube Raum und Tiefe. Er ist ein Abenteuerland der Seele. Er bleibt so schön unverfügbar. Er ist nie nur das, was ich gefunden habe. Er ist immer auch das, was ich suche. Glaube ist mehr Staunen als Wissen, mehr Fragen als Antworten. Und die Welt ist mit Gott durchaus eine andere als ohne ihn. Sie ruht im Zauber ihrer Heiligkeit. Sie ist Schöpfung in Fülle und Schönheit. Ich höre die Melodie des Göttlichen in ihr. Den Sound der verheißenden Tiefe. Das mag ich sehr.

Alfred Depp (Jesuit und Widerstandskämpfer) schreibt (mit gefesselten Händen!) am 17. November 1944 in einer Zelle in Berlin Tegel: „Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brennpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.“

Oder, von meinem geliebten Antwort – Freund Matthias Claudius herrlich gedichtet: „So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sind nicht sehn.“

Du fragst, warum ich glaube?

Deshalb!

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Irgendwo dort, weit weg.

Nein, es soll einmal nicht um Corona gehen. Auch ich bin betrübt angesichts derer, um die wir bangen oder gar trauern. Aber Corona ist eine begrenzte Plage. Eines Tages wird sie vorbei sein und vielleicht medizinisch so beherrschbar wie manche frühere auch.

Genau das aber gilt für die verheerendste Seuche der Menschheitsgeschichte nicht: Die Pandemie des Hungers. Sie ist immer, Jahr für Jahr. Kein Fernsehsender, der jeden Abend die neuen Zahlen veröffentlicht: Neu erkrankt an der Pandemie des Hungers: … Gestorben: … Risikogruppe: Kinder. Hochrisiko: „Säuglinge“.

Die Pest war zeitlich begrenzt. Die spanische Grippe war zeitlich begrenzt. Corona ist zeitlich begrenzt. Hunger ist immer. Gegen Corona wird man hoffentlich einen Impfstoff finden, so wie gegen Keuchhusten und Diphterie. Es wäre ein Segen, keine Frage. Aber wo ist der Impfstoff gegen die Pandemie des Hungers, die opferreichste aller Seuchen? Wo ist die fieberhafte Suche nach einem Gegenmittel angesichts Millionen Hungertoter? Wo sind die Konjunkturprogramme, die Rettungsschirme? Wo ist die Einigkeit über alle Parteien hinweg, mit Entschlossenheit diese Pandemie zu bekämpfen? Eine Krankheit, die heilbar ist. Es brauchte nur eine Abschöpfung des Überschusses. Wir erleben gerade, wie Prominente ihre Schatullen öffnen. Der König von Twitter gibt eine seiner 4 Milliarden. Sportgrößen veröffentlichen ihre Millionenspenden. Corona, die Krankheit, die einen selbst treffen könnte, macht es möglich. Hunger, die erbärmlichste Seuche zum Tode, ist offenbar weit genug weg. Irgendwo dort, wo die Dürre immer schlimmer wird, weil wir das Leben aufgebläht haben zu einer Verbrauchsorgie. Irgendwo dort, wo die Armen angeblich selbst Schuld sind, sich die Bodenschätze von den Reichen weg schürfen zu lassen, um sie dann veredelt und teuer zurückkaufen zu dürfen. Irgendwo dort, weit weg.

Wir werden die Staatsschulden, die Corona uns auferlegt, über Steuern tilgen. Wie wäre es mit einer Steuer gegen die Pandemie des Hungers? Ein Pro-Kopf-Geld in allen reichen Ländern dieser Erde? Gestaffelt nach Einkommen. Die besonders Vermögenden könnten ja mehr erübrigen: Zwei von vier Milliarden? Eine von zehn Millionen? Zwanzig von fünfhunderttausend? Wie auch immer: Es müsste verpflichtend sein für alle, weil es sonst nichts wird: Jede, jeder in der Auto -, Reise- , Party – und Smartphonewelt. Es braucht kein Labor, um den Impfstoff zu finden. Es braucht eine Übereinkunft, wie wir sie jetzt ja auch hinbekommen. Ich weiß sehr wohl, dass ich erst einmal bei mir selbst anfangen muss. Gerade ich, der Christ, der unbeholfen Glaubende. Was ich abgebe, ist zu wenig, was ich erübrige, zu erbärmlich. Ich will weiter daran arbeiten. Trotzdem muss aus dem „Ich“ ein „Wir“ werden und aus dem „Kann“ ein „Muss“. Sonst reicht es nicht. Sonst ist die verheerendste aller Pandemien nicht zu besiegen. Heute sollte es einmal nicht um Corona gehen.

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Andacht zum Osterfest 2020

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Christus entstauben

Es ist grad alles anders: Wartezeit. Stille Zeit. Die Kirche bleibt leer, auch sonntags.

Also nehme ich mir am Montag die Sakristei vor: Aufräumen, ordnen, Staub jagen. Es ist ein großes Finden ohne Suchen: Unmengen an Christbaumkugeln, viele aus längst vergangenen Zeiten. Kerzen, die man neu sortieren und zur heiligen Lichtnutzung vorbereiten kann. Und dann, ja dann: Ein Kruzifix. Es stand ein bisschen im Verborgenen. Vorsichtig ziehe ich es hervor. Es ist so schön, wie ein Kruzifix eben sein kann: Traurig schön. Ich wasche den Christus sorgsam ab. Ich trockne ihn. Mein „Elsterglanz“ aus DDR-Zeiten hole ich nicht. Christus soll nicht glänzen. Ich weiß, dass er das nicht will.

Ich drehe das Kruzifix herum. Auf der Rückseite steht die Jahreszahl „1923“ und der Name einer Familie, aber kein Ort. Dieser Christus wird bald hundert. Irgendwann hat man ihn im Pfarramt abgegeben. Vielleicht stand er einmal auf einem Hausaltar und hat dort auch flehenden Glauben in bangen Zeiten erlebt, so wie wir gerade. Es kamen ja dann Inflation, zweiter Weltkrieg, Flucht- und Hungerzeiten und all die heißen Gebete dazu.

Ich baue einen kleinen Altar in unserer Sakristei: Ein Tisch, zwei Kerzen und der gekreuzigte Christus aus dem Jahr 1923.

Ich hole dich ans Licht, Bruder Jesus, du Gefährte unserer jubelnden Freuden und bitteren Leiden und all dessen dazwischen. Ich hole dich ans Licht, und morgen früh bete ich mal hier in der Sakristei.

Vor dir für uns.

Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch. (1. Petrus 5,7)

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Briefe in Fernzeiten

Abstandsanweisungen, Abstandsmarkierungen, Abstandskontrollen.

In diesen Zeiten definiert sich vieles in Distanzen.

Was können wir tun? Anrufen und reden. Ja, das ist wichtig. Digitale Post über das Smartphone? Ja, wer es mag.

Und wie wäre es mal wieder mit dem schönen, alten Brief? Anrede oben, Gruß unten, Text dazwischen. Kuvert, Briefmarke, Adresse, Absender. Abschicken. Und dann? Dann geht einer mittags zu seinem Postkasten. Weißt du, wie man sich über einen richtigen Brief freuen kann? Gerade in diesen Tagen? Ein Brief ist sinnlich. Du kannst ihn in Händen halten, öffnen, lesen.

Also, wie wär’s? Briefe in Fernzeiten, bis wir endlich wieder zueinander kommen. Das Neue Testament ist voll davon.

Dies schreibe ich dir und hoffe, bald zu dir zu kommen!“ (1. Timotheus 3,14)

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Nur Bach war noch da

Ich will euch von Klaus erzählen. Vor Kurzem kam der Tod in sein Haus und nahm ihm die Frau fort. Eine Frau wie ein Wildpferd. Immer auf dem Sprung. Immer den Wind um die Ohren. Nachts wollte sie manchmal aufs Fahrrad. „Ich muss jetzt fort, kommst du mit?“ Natürlich kam er mit. Man lässt Wildpferde nicht allein durch den Wind galoppieren. Also nachts halb eins mit dem Fahrrad zum Fluss. Und an den Samstagen sagte sie manchmal nach dem Aufstehen: „Ich mag jetzt nach Prag fahren. Kommst du mit?“ Zu halten war sie nicht. Keine Zügel. Keine Hindernisse auf dem Parcours. Und immer dieses „Auf dem Leben Reiten“ ohne Sattel. Manchmal ging es früh fünfhundert Kilometer bis zum Meer hinauf und abends zurück. Sie konnte Stunden am Strand laufen und unvernünftig weit hinaus schwimmen. Ein Wildpferd im Wasser.

Aber dann lag sie mehr als 16 Wochen. Versunkene Augen, die doch einmal wie Wunderkerzen geleuchtet hatten. Und schließlich ihre Flüsterworte: „Du Klaus, ich hab den Tod in mir. Ich glaub, er will mich ganz. So, wie du.“

Als sie starb, war es, als ob auf dem Jahrmarkt die Karussells stehenbleiben würden. Nur Bach war noch da, die Musik, die sie in den letzten Tagen hörte. Die Musik vor der großen Stille. Jetzt hört er sie immer und immer wieder.

Plötzlich regt sich Leben, Wildpferdleben. Seine Tochter kommt aus der Schule. Sie tanzt leichtfüßig durch die Eingangstür. Sie umarmt ihn: „Ach Papa, du hörst es ja schon wieder!“ Er nickt. Er ist in dieser Musik verschwunden und will eigentlich nie mehr heraus. Nicht aus der Musik und nicht aus dem Trost der Worte. Sie geben ihm Kraft für die beiden Töchter und das Leben, das ihn finden soll. Ein Leben, das niemals wieder galoppieren wird. Aber tanzen, tanzen wird es auf zartjungen Füßen. „Ach, Papa, du hörst es ja schon wieder!“

Ja, einmal noch und noch einmal und …:

Wohl mir, dass ich Jesum habe,

o wie feste halt ich ihn,

dass er mir mein Herze labe,

wenn ich krank und traurig bin.

Jesum hab ich, der mich liebet,

und sich mir zu eigen gibet;

ach, drum lass ich Jesum nicht,

wenn mir gleich mein Herze bricht.“